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Erste Widerstände
Während ich an die beiden Jahre im Kindergarten überwiegend gute Erinnerungen habe, wehte in der Schule von Anfang an ein ganz anderer Wind. Mit jedem zunehmenden Jahr lernte ich die bittere Realität des Ausländerseins und somit einer Randfigur kennen. So wurde ich wegen meinem bereits in den ersten Klassen stark vorhandenen Haarwuchs an den Armen als Affe gehänselt oder man machte sich über meine grosse Nase oder meine O-Beine lustig. Natürlich erscheinen auch mir solche Sachen heute als Bagatelle, aber für mich - in der damaligen Situation, als einziger Ausländer der Klasse und meistens auch in der Freizeit - waren es wie Messerstiche mitten ins Herz. War ich in meiner frühen Kindheit eine unbekümmerte und lebensfrohe Natur, so wurde ich zunehmend still und vor allem schüchtern. Immer mehr bekam ich es mit der Angst zu tun, etwas falsch zu machen oder schon nur etwas Falsches zu sagen. Denn ich fand es alles andere als angenehm, wenn man über mich lachte. Und um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, gab es ein Wort, das mich komplett zerstückelte: Tschingg. Auch wenn der Ursprung dieses Ausdrucks auf ein italienisches Fingerspiel - ähnlich wie zum Beispiel "Schere, Stein, Papier" oder "Gerade oder Ungerade" - zurückzuführen und von der italienischen Zahl Fünf abgeleitet ist, stand es von Anfang an als abwertende Dialektbezeichnung für einen Italiener. Nicht selten wurde das Wort erweitert, in etwa "Sau-Tschingg" oder "Dreck-Tschingg". Ja, damit musste ich leben, hatte keine andere Wahl. Deshalb konnte es durchaus vorkommen, dass ich weinend nach Hause kam. Meine Eltern konnten mir dabei nicht helfen, waren sie doch in einer ähnlichen Situation. Man duldete einfach stillschweigend.Einfach unwiederstehlich dieser Boogie Rock |
Apropos Jahrmarkt: Es gab in Riggisberg zweimal im Jahr einen sogenannten "Dorfmärit", davon einmal mit "Rösslispiel", einem Karussell und mit Schiessbude und ähnlichen Lunapark-mässigen Attraktionen. Für Kinder war dies das Jahreshighlight schlechthin. Am Freitagmorgen wurden Stände und Karussell aufgestellt und spätestens ab dem Mittag war im Dorf ein Freudenfest. Spielzeuge, Schleckereien, Attraktionen - schlicht alles, was das Kinderherz begehrt. Während der Markt am Abend bereits wieder abgeräumt wurde, blieb das Karussell auch am Samstag in Betrieb. Da drehte ich natürlich auch meine unzähligen Runden. Als zusätzlicher Ansporn diente ein Fangarm, in dem Ringe platziert wurden, die man beim vorbeidrehen vereinzelt herausziehen konnte. Einer dieser Ringe war goldig und wenn man es schaffte, diesen Ring zu ergattern, erhielt man eine Rote Fahne und somit eine Gratisfahrt. Durfte mich auch etliche Male zu den Flinken und Glücklichen zählen, was mir - auch für einen kurzen Moment - Freude und eine gewisse Genugtuung in Anbetracht mancherlei Umstände verlieh. Aber der Dorfmärit war auch sonst der Tag, an dem ich mich regelrecht verwöhnt fühlte. Nönu und Nonä berappten mir so manch kleines Spielzeug, meistens irgend eine Modellbaumaschine oder ein kleiner Gummidinosaurier. Auch meine Mutter liess es mir an diesen Tagen an nichts fehlen: Ob rote Tickets fürs Karussell, eine Wasser- oder Kügelipistole - immer wieder gab es Dinge, an denen ich mich freuen konnte. Und genau an einem dieser Markttagen konnte ich mir "Never too Late" von Status Quo kaufen.
Ehm, exgüsi, gibt's da auch noch etwas rockiges? |
Das war für mich einer dieser Schlüsselmomente, wo ich merkte, dass ich mir mit AC/DC und allgemein mit Rockmusik wahrscheinlich keine Freunde machen würde. Nun denn. Ich merkte mir das Bild der Kassette und bei der nächsten Möglichkeit, die sich mir bot, erwarb ich sie mir und brachte somit den ersten Tonträger von AC/DC nach Hause, nachdem ich bereits zwei Vinylplatten bei meinen Tageseltern hatte. Es zeichnete sich also unmissverständlich ab, dass eine harte und wilde Form der Rockmusik einfach zu meinem Leben gehörte, da sie mich schlicht glücklich machte. Und diesen Fluchtort der Freude brauchte ich, mehr als mir manchmal lieb war.
Strommusik für Zuhause |
Als ich die Trennungsübung zur Korrektur als Hausaufgabe zu Brands brachte, reagierten sie zu meiner Erleichterung ganz anders. Eva war der Ansicht, dass die Lehrerin nicht so streng hätte korrigieren sollen, da es ja immerhin erst der Anfang der dritten Klasse sei und man zum ersten Mal so etwas gemacht habe. Brands waren zwar streng und verlangten Fleiss und Disziplin von mir, wussten aber auch genau über meine Bemühungen und Fähigkeiten Bescheid. Sie waren im Bild, was in der Schule lief und standen immer hinter mir, wenn es diesbezüglich irgendwelche Schwierigkeiten gab. So kam es auch vor, dass sie mich vor meinem Vater verteidigten, der jede Kleinigkeit als Vorwand gebrauchte, mich noch mehr anzustrengen. Sie waren es auch, die in mir ein gewisses Selbstvertrauen erweckten und mir eine Identität jenseits der italienischen Grenzen zuschrieben. Für sie war klar, dass ich kein Italiener mehr war. Meine Eltern sahen dies natürlich anders und sowohl ihre, als auch meine Erlebnisse wiederlegten diese Ansicht. Folglich befand ich mich von Anfang an in einer Zwickmühle, da ich durch meine Umgebung, die fast ausschliesslich aus Schweizern bestand, entsprechend geprägt wurde, anderseits aber in einer typischen süditalienischen Familie lebte, deren Wurzeln noch heute unverkennbar in meiner Natur wahrzunehmen sind.
Und genau dieses Dilemma wurde mir in mancherlei Hinsicht immer wieder zum Verhängnis. In der Schule und in der Freizeit war ich einfach der Italiener und in Italien war ich "lo Svizzero", der Schweizer. Immer wieder war ich hin- und hergerissen, hatte keine wirkliche Identität. Meine Verwandten in Italien vergötterten mich geradezu, allein schon wegen der Tatsache, dass sie mich einmal, höchstens zweimal im Jahr zu Gesicht bekamen. Bei Cousins und Cousinen stellte es aber bereits an, weil da die kulturellen Schranken und somit auch Interessen und Verhalten oftmals im Weg standen. Und trotzdem nahm ich immer wieder ein Stück Nostalgie und Wehmut mit aus den Ferien zurück. Allerdings wurden diese innert kürzester Zeit im schweizerischen Alltag gnadenlos erstickt.
Und meine Liebe zur Rockmusik machte dieses Identitätsproblem nicht einfacher. Im Gegenteil. Das Dorf, in dem ich zur Welt gekommen bin, war in Sachen Musik nur auf einheimische Musik fixiert. Rockmusik war in ihren Augen die Musik der Rebellen und Vagabunden. AC/DC wurde also von Anfang an ausgeschlossen, hatte keine Daseinsberechtigung in der Mitte von Menschen, die sich nach einem besseren Leben sehnten und zudem erzkatholisch, vereinzelt sogar abergläubisch waren. Leute, die meistens auf dem absoluten Existenzminimum lebten, es aber nicht scheuten, ihr Hab und Gut mit anderen zu teilen. Der Ruf von Offenherzigkeit und Gastfreundschaft der Italiener ist somit nicht irgendein Mythos, sondern Realität - zumindest in der Mitte von Verwandten und Leuten, die sich kennen. Aber war irgendwer in der Familie oder in der Verwandtschaft mal nicht gerade so, wie es den Massstäben entsprechen sollte, konnte man damit plötzlich sehr hart ins Gericht gehen. So wunderte es zum Beispiel wenig, wenn ein junger Mann, der sich die Haare wachsen liess, plötzlich als "Drogato", also Drogensüchtiger, oder als Vagabund verschrien wurde - auch wenn er mit Drogen überhaupt nichts am Hut hatte. Ironischerweise haben mich lange Haare bei Männern immer fasziniert, fand das immer total lässig und cool, aber geprägt durch meine Kultur wurde mir von Anfang an klargemacht, was davon zu halten ist. Und mit diesem immer grösser werdenden Widerstand, welcher durch die verschiedenen Konturen der Rockmusik sich in meinem noch total jungen Leben fein abzeichneten, sah ich mich zunehmend konfrontiert. Rock hiess für mich Freude, Freiheit und Frieden. Stattdessen erntete ich damit Hohn unter Schulkameraden und allgemein die Aussenseiterrolle in der allgemeinen Mehrheit der Gesellschaft. Ob in der Schule, ob zu Hause, zu Besuch oder in der Freizeit - sobald Rockmusik oder AC/DC angesprochen wurden, waren die Rollen verteilt. Meine war fast ausnahmslos die des Verlierers. Aber wollte ich überhaupt ein solches Leben führen? Ein Leben, wo man mit dem, was einem lieb ist, aneckt? Natürlich war ich zu diesem Zeitpunkt viel zu jung, um diese Widerstände zu verstehen, geschweige denn, mich ihnen zu stellen. Ich gab nach, wollte akzeptiert und geliebt sein und versuchte deshalb, auf dem Zug der Allgemeinheit mitzufahren.
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